Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern!
Kaum etwas kann uns Menschen so kränken wie eine Krankheit.
Kaum etwas nagt so an unserem Selbstbild wie eine Krankheit.
Kaum etwas entzieht sich so sehr unserer Kontrolle, kaum etwas kann unsere Lebensträume so zerplatzen, kaum etwas empfinden wir so ungerecht wie eine Krankheit.
Kaum etwas in unserem Leben fürchten wir daher so wie eine schwere Krankheit.
Und dennoch riskieren wir täglich unsere Gesundheit: Wir rauchen zu viel, wir fahren zu schnell, wir klettern zu hoch, wir tauchen zu tief, wir schlafen zu wenig und sagen uns zu selten, wie lieb wir uns haben.
Ja, unser Verhältnis zur Gesundheit und Krankheit ist ambivalent und widersprüchlich. Wir joggen, als ginge es um unser Leben. Wir geben in Deutschland etwa 6 Milliarden Euro pro Jahr für Fitness aus und nutzen doch für die Hinfahrt unser Auto. Wir geben ca. 1,5 Milliarden Euro für Vitaminpillen aus und geben unseren Kindern doch Schokoriegel als Frühstück in die Kita mit.
Fast 50 OOO Deutsche verletzen sich pro Jahr beim Skifahren.
2018 gab es 582 Tote nach Sportunfällen, aber nur 420 Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang.
Ja, unser Umgang mit Risiko ist nicht rational.
Kann ja jeder machen, wir er will!! Muss ja jeder selbst wissen!!
Ja, aber man muss es auch verantworten können. Und man muss es sich auch leisten können.
Gesundheit und Krankheit hatten schon immer wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Aspekte – zusammengefasst gilt und galt: Wer arm ist, wird krank und wer krank ist, wird arm.
Wir haben da Glück. 66 Jahre alt werden wir im Schnitt, ohne an wesentlichen Gebrechen zu leiden.
Im Ländervergleich der Zufriedenheit liegen wir weit vorne, etwa auf Rang 16. Fast 30 Jahre länger leben wir als die Menschen in vielen Ländern Afrikas.
Bei uns sind fast alle Menschen krankenversichert. In der gesetzlichen Krankenversicherung gilt das Solidarprinzip. Fast nie wird nach der eigenen Schuld oder Verantwortung für eine Krankheit gefragt. Auch Nichtraucher können ja Krebs bekommen, auch schlanke Menschen Diabetes. Auch Marathonläufer fallen mit Herzinfarkt tot um und auch Professorinnen werden dement. Ja, die Kasse zahlt sogar, wenn wir uns nicht impfen lassen und an Grippe erkranken. Wir können uns nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft behandeln lassen oder unserem Bauchgefühl folgen, das steht uns völlig frei.
Ja, das muss man sich erst mal leisten können- als Einzelner und als Gesellschaft.
Ich habe mein letztes Studienjahr in Salvador da Bahia in Brasilien verbracht, das war 1990/1991.
Schwarze Hautfarbe, Armut und Krankheit gingen dort Hand in Hand.
Der Bruder eines Freundes starb nach einem Autounfall; er wurde erst gar nicht medizinisch versorgt, weil er schwarz war.
Offene Tuberkulose, Lepra und andere entstellende Hauterkrankungen waren an der Tagesordnung. AIDS wütete unter den jungen Menschen.
Kinder starben an Tollwut, weil sie beim Rinderhüten von Fledermäusen gebissen wurden.
Säuglinge starben an Hirnhautentzündung, an Tetanus, an Diphterie, an Keuchhusten.
Was hätten die Eltern dafür gegeben, wenn sie Zugang zur Impfungen oder Antibiotika gehabt hätten? Was hätten sie dafür gegeben, an den Fortschritten der Medizin, die es ja auch damals in Brasilien gab- aber eben nur für die Reichen- teilhaben zu können?
Was gäben die armen Brasilianer jetzt dafür, täglich eine neue Maske tragen zu können? Desinfektionsmittel zu haben? Nicht auf engem Raum leben zu müssen?
Wer stirbt jetzt wohl in Brasilien?
So wie eine Krankheit in das Leben jedes Einzelnen von uns einbricht, so ist jetzt das unsichtbare Corona-Virus in die ganze Welt eingebrochen.
Wir verlieren die Kontrolle, das kränkt uns und macht uns Angst. Schließlich können wir Covid 19 noch nicht heilen.
Statt jetzt zusammenzuhalten, spaltet sich die Gesellschaft. „Stirb doch an Corona, du Alte“ „Corona ist eine Lüge und Masken führen in den Kommunismus“ – wir kennen alle diese fruchtlosen Diskussionen.
Egoismus und Rücksichtlosigkeit, Misstrauen und Wissenschaftsfeindlichkeit brechen aus Menschen heraus. Es tröstet kaum, dies psychologisch als Reaktion auf die Angst vor dem Unkontrollierbaren zu erklären.
Ja, Corona raubt uns allen die Gesundheit, auch wenn wir nicht infiziert werden: Wir machen uns Sorgen, die Wirtschaft leidet, wir verlieren Freunde und auch den Glauben an Vernunft und Aufklärung.
Ja, Covid 19 ist eine Zumutung für uns alle.
Warum mutet Gott uns das zu?
Warum mutet er uns überhaupt Krankheiten zu?
Warum lässt Gott uns erst krank werden, erst lahm oder blind, um uns – und das auch nur vielleicht - später zu heilen?
Warum lässt er so viel Leid zu?
Stellt Euch mal kurz vor, es gäbe keine Krankheiten mehr:
Nie wieder Kopfschmerzen, Rückenverspannung, Schnupfen? Keine Übelkeit, keine Bauchschmerzen, kein Erbrechen? Kein Bänderriss, keine Gehirnerschütterung? Kein Herzinfarkt, kein Schlaganfall. Kein Rheuma und Gelenkverschleiß? Nie wieder Grübeln, Angst und Schlafstörungen? Und kein Krebs und kein Virus der Welt könnten uns etwas anhaben?
Nie wieder müssten wir stundenlang unser Baby durch die Wohnung tragen, weil es Bauchschmerzen hat. Nie wieder durchwachte Nächte, weil das Zahnen schmerzt. Warme Milch mit Honig, Wadenwickel, Handauflegen- alles wäre überflüssig. Und auch die sanfte Nackenmassage und der Kuss auf das aufgeschürfte Knie würden nicht gebraucht. Nie wieder müsste die Schulfreundin die Hausaufgaben vorbeibringen, nie wieder der Kollege unsere Arbeit mitmachen. Nie wieder müssten wir für Opfer von Katastrophen spenden. Und unsere alten Eltern müssten schließlich auch nicht gepflegt werden. Nie wieder müssten wir sie in unsere Fürbitten einschließen.
Ein Leben ohne Krankheit und Leid- das wäre auch ein Leben ohne Mitleid.
Ein Leben ohne Leid und Krankheit, das wäre ein Leben voller Egoismus, Rücksichtlosigkeit, Größenwahn und Gewalt.
Davon müssten wir geheilt werden.
Diese Gottesdienstreihe nimmt Bezug auf den Propheten Jesaja.
Tatsächlich spricht der Prophet Jesaja ja gar nicht von Krankheiten, die Gott heilen will:
Er spricht von Bosheit, Gottvergessenheit, Götzendienst und Treulosigkeit, Habgier und Sünde unter den Menschen.
Und warum will Gott uns Menschen dann heilen?
Ich glaube, er hat Mitleid.
„ Denn ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen; sonst würde ihr Geist vor mir verschmachten und der Lebensodem, den ich geschaffen habe. Ich war zornig über die Sünde ihrer Habgier und schlug sie, verbarg mich und zürnte. Aber sie gingen treulos die Wege ihres Herzens. Ihre Wege habe ich gesehen, aber ich will sie heilen und sie leiten und ihnen wieder Trost geben; und denen, die da Leid tragen, will ich Frucht der Lippen schaffen. Friede, Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR; ich will sie heilen“
Heilung liegt also gar nicht in der Überwindung von Krankheit oder Tod.
Heilung bedeutet Trost und Friede, Hoffnung und Versöhnung.
Seit etwa 15 Jahren bin ich zusammen mit meinem Mann Gerhard in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassen.
Meine Patienten sind fast ausschließlich Menschen, die in Heimen leben. Sie leiden alle an unheilbaren Krankheiten.
Es sind Menschen mit fortgeschrittener Demenz, mit schwerer Parkinsonerkrankung, mit Multipler Sklerose. Es sind Menschen, die in Folge schwerer Schlaganfälle oder Schädelhirntraumata nicht laufen und nicht sprechen können. Es sind Menschen, die seit ihrer Geburt spastisch gelähmt sind und epileptische Anfälle haben. Es sind Menschen, die unter Angst, Sucht und Psychose leiden, oder deren Bewusstsein nach einen Suizidversuch nie wieder aufgewacht ist. Es sind Menschen mit unerträglichen Schmerzen.
Ich will nichts beschönigen. Ich treffe auf unsagbares Leid.
Und dennoch:
Viele meiner Patienten tragen eine tiefe Heiterkeit und Gelassenheit in sich.
Sie haben keine Angst.
Sie spüren keinen Ärger.
Sie machen niemandem einen Vorwurf.
Sie sind mit dem Leben, mit der Krankheit und mit dem Tod versöhnt.
Ich kann sie nicht heilen, aber sie sind schon geheilt.
Ihre ausstrahlende Freundlichkeit und ihre Liebe geben mir Trost und Hoffnung.
Trost und Hoffnung, Glaube und Liebe – das ist es, was ich auch Euch in dieser schweren Zeit wünsche.
Amen.
Und der Friede Gottes, der größer ist als alle menschliche Vernunft, sei mit uns allen.